Vom Tango, dem Aquarell und der Poesie
Beides ein Fließen, ein Dahintreiben in unbekannte Gewässer, Tango und Aquarell werden zum Geschwisterpaar des gelungenen Ausdrucks. Was innen schwelt, was wartet, was sich sehnt und gar nicht weiß, dass es sich sehnt – das will nach außen ins Dämmerlicht eines Nachmittags. Wo die schrägen Sonnenstrahlen das Kopfpflaster einer Piazza aufglänzen lassen, verhallen die Absätze der Tangotänzerin ganz sacht und leise. Sie dehnt sich nach hinten, mit einer Hand den Fächer triumphierend nach oben haltend und doch ist es ein Sieg, der den Verlust bereits in sich trägt.
Da wartet Großes
Die Grazie aber besiegt sie alle, Zuseher, Vorbeischlenderer und Mittänzer. Während die Welt im digitalen Takt dahinmäandert, keine Rezeptoren mehr für Schönheit und Eleganz ausbildet, ertönen mitten drin die ersten Takte einer Tango-Melodie. Die Tänzerin beginnt ihre fragenden Schritte – und uns alle streift der Flügel der Liebe, zart, absichtslos und doch voll Schwere.
Die Sehnsucht erlauben
Zeit, die Pinsel und Farben auszupacken. Auch hier bahnt sich eine Sehnsucht ihren Weg und will gespürt und gesehen werden, verlangt zaghaft nach Raum und Ausdehnung. Nachgeben. Einfach geschehen lassen. Den Aquarell-Block öffnen und mit der Fingerkuppe über das raue Weiß des Papiers streichen. Sinnliches Vergnügen. Vorfreude auf Enstehendes.
Schritt 1: Der Kampf um die Form
Wie die ersten Schritte im frisch gefallenen Schnee zieht der Bleistift seine graphitgraue Spur über das Weiß des Papiers. Noch ist alles möglich. Zärtlicher Kampf um die richtige Form, Lächeln über Irrtümer. Du ziehst die Linie, um Ordnung bemüht, sie misslingt, der Radiergummi machts wieder ungeschehen und die ziehst die Linie erneut, gewachsen um ein ganz kleines bisschen Wissen. Es ist keine große Weisheit, aber genug, um Schritt für Schritt vorwärtszukommen. In Miniaturschritten. Zeitlupenerprobt und Geduld lernend verstehst du ganz langsam, worum es eigentlich geht beim Zeichnen. Sehen, Begreifen und Staunen über das Große im Kleinen und das Kleine im Großen. Sich verneigen vor dem Übermächtigen.

Schritt 2: Der erste Pigmentschauer
Das Wasser in die Gefäße laufen lassen, ruhig und geduldig. Es hat sich bewährt, zwei Gefäße zu verwenden: eines, um den ersten Schwung Farbe vom Pinsel zu waschen und ein zweites, um den Pinsel ganz sauber zu bekommen. Dann das Benetzen der ersten kleinen Fläche mit klarem Wasser: das blauschwarze, glatte Haar, streng zum Knoten in den Nacken gebunden. Welche Aquarellfarbe würde hier besser passen als Indigoblau? Die Tiefe des Indigo, seine Sehnsucht nach tiefem Meeresblau und geheimen Elfenbeinschatten, all das sucht nach einem Stolz und einer Grazie, die man eigentlich für ausgestorben hielt.
Aquarell malen, Tango tanzen. Träumen. Malen! Es geht los. Die ersten Pigmentschauer verlassen die Pinselspitze und verfließen ungebremst auf der Wasseroberfläche. Die kurzen Momente der Spannung, ob die Farbe diesmal einen idealen Verlauf nehmen wird; wir lieben diesen Thrill, diese Unmöglichkeit der Einflussnahme: die Farbe fließt, wie sie will. Du musst es zulassen, oder das Malen ganz sein lassen. Ab und zu gelingt dir ein kleiner Dompteur-Trick mit einem Wattestäbchen oder einem kleinen Baumwolltuch und du versuchst, den Fluss in eine bessere Richtung zu treiben.

Schritt 3: Der stolze Kamm
Partie um Partie werden die Flächen der Tänzerin mit Wasser benetzt und anschließend mit dem unwiderstehlichen Indigo-Blau bemalt. Den Kamm, den sich die Tänzerin am Morgen mit einem kühnen Gedanken ins streng gescheitelte Haar setzte, deuten wir nur ganz sachte an. Ein paar flüchtige Pinselstriche in wässrigem Indigo genügen, um die Idee des Kamms real werden zu lassen.

Schritt 4: Indigo, die Hand des Geliebten
Reines Glück, wenn das Indigopigment sich auf dem Feuchten in winzigste Verästelungen verläuft. Als würdest du einen Fluss erschaffen, der sich zu Seen und Buchten, Teichen und Meeresstränden ausweitet.
Das Indigo schmiegt sich an den Rücken der Tänzerin wie die Hand des Geliebten: freudig, warm und voller Hingabe.

Schritt 5: Der Trick mit der Küchenrolle
Wer würde glauben, dass so etwas Profanes wie ein Stückchen Küchenrolle diese fragilen Tupfen-Muster erzeugt? Das Indigo recht kräftig auf den gewünschten Papierteil aufbringen und ohne jedes Zögern mit einem kleinen Stückchen kreis-gemusteter Küchenrolle die Farbe wieder auftunken. Nur einmal kurz auflegen, sanft aufdrücken und gleich wieder abnehmen. Zurück bleibt ein sanft abschattiertes Muster.
Schritt 6: Malen als Möglichkeit des Mit-Fühlens
Während des Malens der angespannten Muskel der Tänzerin die Spannung im Köper mit-fühlen. Tango tanzen im Kopf. Wieder eine Möglichkeit zur Annäherung an alles, was lebt. Ist der poetische Moment nicht einer der Kraftvollsten und im Grunde Unbesiegbarsten?

Schritt 7: Der Augenblick steht still
Wie vergänglich leuchtet das ebenmäßige Gesicht der Tänzerin. Zart wässrige Farb-Wasser-Gemische von Indigo-Blau modellieren Kinnlinie, Augen und Mundpartie der Schönen. Hörst du ihn auch, den Ton der Violine?

Schritt 8: Sich in Variationen verlieren und an Einsicht gewinnen
Das Motiv immer wieder neu malen, den Kampf immer wieder aufnehmen und jedes Mal etwas Ungewohntes entdecken, Neuland erforschen, Variationen eröffnen. Selbst ein und diesselbe Vorlage mit nur einer Farbe mehrmals malerisch zu erobern, eröffnet ein ungeahntes Übungsfeld.

Ich wünsche dir einen bilderreichen Tag voller Farb- und Strahlkraft und vor allem viel Inspiration für gelungene Bilder. Mögest du die Balance zwischen Chaos und göttlicher Ordnung finden. Ein wunderbarer Pathfinder dafür ist meine Lieblings-Aquarellfarbe Indigo-Blau. Damit kann kaum was schiefgehen! 😉
Happy painting!
Deine Dodo